Nach den Messen am Allerheiligentag und der Segnung der Gräber mache ich jedes Jahr spät in der Nacht noch eine Runde über einen unserer Friedhöfe im Schein der roten und weißen Lichter. Ich fühle die Gebete dieses Tages noch auf den Gräbern ruhen. Manch schweren Gang habe ich begleitet in den Monaten. Gerade im Frühsommer. In meinem ersten Kaplansjahr 1981 rutschte Uwe kurz vor Allerheiligen mit 12 Jahren beim „Aufhängen-Spielen“ aus. Sein Grab habe ich damals in der Allerseelennacht lange besucht. Ich besuche heute oft nachts das Grab meiner Eltern und entzünde ein Licht. Ich schaue auf die Namen anderer Gräber und erinnere mich an Familienzusammenhänge. Und ich blicke hinüber zu den Häusern der Menschen und zum Kirchturm hinauf: Unsere Toten gehören mitten in unsere Wohnbereiche.
Auch die Ehrenmäler gehören mitten in unsere Ortschaften. Sie sind die Ersatzgrabsteine, Namen in Stein gemeißelt, hier bei uns, wo die Toten unerkannt auf den Schlachtfeldern blieben. Egal ob damals Nazis oder heute Künstler solche „Denksteine“ für ihre Zwecke verfremdeten: Es stehen Familiennamen heutiger Bewohner da drauf! Auf unserer Wallfahrt nach Marienbaum 2018, hundert Jahre nach Kriegsende, haben wir eine halbe Stunde lang im Gehen des Kreuzwegs laut und langsam die vielen Namen der Gefallenen und Vermissten aus jedem Kalkarer Ortsteil verlesen.
Wie andere am vergangenen Volkstrauertag werden wir am kommenden Sonntag mitten durch Niedermörmter und Kalkar ziehen. So machen wir die Namen auf den Steinen präsent. So geben wir den Nachfolgenden Geschichtsunterricht. Die Ehrenmäler dürfen nicht verschwinden. Die dörflichen Friedhöfe dürfen sich nicht leeren. Bei uns haben sich in Hanselaer, Appeldorn, Niedermörmter, Hönnepel, Altkalkar und Wissel die Bürger damals den Geboten Napoleons widersetzt, die Friedhöfe hygienebedingt nach außen zu verlagern. Unsere Fürbitten in der Kirche sprechen von unserer Liebe zu ihnen und bedanken sich für ihre Fürsorge. Sie drücken eine Sehnsucht nach bleibender Gemeinschaft aus. Es gibt auf den Friedhöfen heute unterschiedlichste Grabformen und Bestattungsarten und pflegeleichte Grabstellen. Jedes Grab, das nicht in unserer Mitte bleibt, fördert damit leicht eine Vergessenskultur. Durch die Nutzung der örtlichen Ruhestätten bei uns statt externer Orte erhalten wir diese gemeinsame Erinnerung und behalten die vertrauten örtlichen Namen im Blick. Gräber sind Erinnerungs- und Trauerstätten auch für Nachbarn, Freunde und Arbeitskollegen. Wenn wir die Friedhöfe vor Ort nicht mehr fördern und gestalten, sind unsere Toten schnell „aus dem Auge, aus dem Sinn“. Und wir danach bald auch.